Der Vorlesetag am Freitag, 18. Juni, ist mit einem wenig erfreulichen Report zu besonderer Aufmerksamkeit gelangt: Immer mehr Eltern lesen ihren Kindern nicht mehr vor. Auf diese Aussage lässt sich zusammenfassen, was die Expertinnen der Stiftung Lesen für den Lesemonitor 2022 herausgefunden haben. Für die Erhebung sind bundesweit 839 repräsentativ ausgewählte Eltern von Kindern im Alter zwischen einem und acht Jahren befragt worden, 42 von ihnen fanden in ausführlichen Interviews Gehör.

Mit dem Ergebnis stellen sich die Eltern selbst eher schlechte Noten aus: 39 Prozent der Kinder wird nur selten oder gar nicht vorgelesen. Eine Quote, die gegenüber der vorangegangenen Erhebung aus dem Jahr 2019 um acht Prozent zugenommen hat. In der Analyse der Befragung ergründen die Wissenschaftler auch, womit die Vorlesepraxis der Eltern zusammenhängt. Als einen Grund wird die Verfügbarkeit von Vorlesestoff genannt. Je mehr Kinderbücher im Haushalt vorhanden sind, desto regelmäßiger lesen Eltern ihren Kindern vor und geben damit frühe Impulse fürs eigenständige Lesen und spätere Vorlesen weiter. Rainer Esser, Geschäftsführer der ZEIT Verlagsgruppe und in der Stiftung Lesen engagiert, sieht als deutliches Ergebnis der Studie, dass die bisherigen Fördermaßnahmen nicht ausreichten. „Nur eine verbesserte Verfügbarkeit von Büchern und digitalen Vorlesematerialien kann dazu beitragen, dass Vorlesen und Lesen in mehr Familien stattfindet.“

Als weiteres Resultat bestätigt der Lesemonitor, was Lehrkräfte landauf, landab seit langem bemerken: Die Bildung der Eltern hat Einfluss darauf, wie oft Kindern vorgelesen wird. Mehr als die Hälfte der Eltern mit formal geringer Bildung lesen ihren Kindern selten oder nie vor. Damit sind gerade diese Kinder mit Beginn der Schule im Nachteil. „Um die Abwärtsspirale der immer stärker abnehmenden Vorleseaktivitäten in Familien mit formal geringer Bildung der Eltern zu stoppen, müssen wir noch gezieltere Unterstützung leisten“, fordert Jürgen Kornmann, Leiter Marketing & PR der Deutschen Bahn und Beauftragter Leseförderung der Deutsche Bahn Stiftung. „Schaffen wir hier die Trendumkehr, verbessern wir nachhaltig die Chancen der nächsten und übernächsten Generationen“ Schließlich würden Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wurde, auch mit höherer Wahrscheinlichkeit den eigenen Kindern vorlesen.

Zugleich schiebt die Stiftung Lesen Eltern an, früher mit dem Vorlesen zu beginnen und dies deutlich länger zu praktizieren. Nach dem Monitor fangen viele Eltern erst mit oder nach dem zweiten Geburtstag der Kinder mit dem Vorlesen an und hören zum großen Teil wieder auf, wenn die Kinder in die Schule gehen. Es sei wichtig, Eltern im Vorlesen zu bestärken und auch den Vorlesebegriff breiter zu fassen, appelliert Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen. Das Erzählen beispielsweise beim Betrachten von Bildern gehört zweifelsohne dazu. „Vorlesen eröffnet Kindern die Welt der Geschichten und legt wie keine andere Aktivität den Grundstein für Bildung und Zukunftschancen“, sagt Maas. Deswegen müsse die Bedeutung des Vorlesens in der Gesellschaft wachsen und mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten.

Seitens der Politik gibt es dafür Unterstützung, beteuert Jens Brandenburg bei der Vorstellung des Lesemonitors. Der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Mitglied im Kuratorium der Stiftung Lesen, verweist auf die „Initiative Lesestart 1-2-3“ und die Kampagne „Lesen & Schreiben – Mein Schlüssel zur Welt“.

Für Brandenburg ist Vorlesen ein überaus wichtiges Element früher Bildungsförderung. „Es leistet einen elementaren Beitrag dazu, dass Kinder ihre Bildungschancen voll ausschöpfen können. Regelmäßiges Vorlesen ist nicht nur förderlich für die späteren Sprach- und Lesekompetenzen, sondern auch für die Fantasie und stärkt zudem die Eltern-Kind-Beziehung.“

Praktische Anregungen fürs Vorlesen können sich Eltern aber auch Großeltern, Onkels und Tanten holen beim bundesweiten Vorlese am Freitag, 18. November. Nahezu 500 000 Aktionen sind mit Stand 9. November zwischen Flensburg und Füssen zusammengekommen. Gemein ist allen, dass freiwillige Vorleserinnen und Vorleser zum Buch, ob analog oder digital, greifen und jungen Menschen vorlesen. Die Wochenzeitschrift Die Zeit, die Deutsche Bahn Stiftung und die Stiftung Lesen hatten den bundesweiten Vorlesetag erstmals im Jahr 2004 ausgerufen. Sie wollten Deutschlands größtes Vorlesefest auf die Beine stellen und damit ein öffentliches Zeichen setzen. Der Start mit 1900 Beteiligten erschütterte die Initiatoren nicht im Geringsten. Jahr um Jahr wuchs der Vorlesetag. Nun gehen die Initiatoren davon aus, am dritten Freitag im November in diesem Jahr 600 000 Teilnehmende zu verzeichnen.

Der Aktionstag in diesem Jahr steht unter dem Jahresmotto „Gemeinsam einzigartig“.  „Wir feiern gemeinsam mit allen Zuhörer:innen die Vielfalt unserer Gesellschaft als alltägliche Bereicherung und verbindendes Element. Dabei lässt das Motto viel Freiraum für die eigene Gestaltung – sei es mit mehrsprachigen Geschichten, Erzählungen über ungewöhnliche Charaktere oder außergewöhnliche Vorlesesituationen“, heißt es auf der Homepage des Vorlesetages.

Wer noch eine Vorleseaktion anmelden möchte, braucht auf der Homepage eine Anmeldebogen mit persönlichen Angaben und Informationen zum Vorleseort auszufüllen und die Teilnahme kurz zu beschreiben. Und wer keine zündende Idee hat, findet auf der Homepage jede Menge Lese- und Aktionstipps.

Und wer einen Ort sucht, an dem Kinder die Lauscher spitzen dürfen, gibt auf der Homepage des Lesetages einfach seinen oder den Nachbarort ein und bekommt die angemeldeten Vorleseaktionen angezeigt. In Frankfurt reicht dies vom „Nussknacker und Mauskönig“ im Romantik-Museumüber „Manno alles ist genauso in echt passiert!“ von Anke Kuhl in der Nationalbibliothek bis hin zu allerlei Lesen-macht-Spaß-Aktionen in Buchhandlungen, Kitas und Grundschulen. Zu jeder Leseaktion gibt es auch Infos, ob sie öffentlich zugänglich sind oder nur nach voriger Anmeldung besucht werden können.

www.stiftunglesen.de

www.vorlesetag.de

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Illustration: © gemeinsame Initiative von DIE ZEIT, Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung