In Kinderbüchern toben Heldinnen und Helden über die meist bunt bedruckten Seiten. Sie führen mitunter Erwachsene an der Nase herum, stellen sich allerlei Herausforderungen und sind für junge Leserinnen und Leser durchaus Leitfiguren. Auf die Fragen von MainKind-Autor Klaus Kühlewind stellte Karin Vach die mutigen Geschöpfe der Kinderliteratur vor, beschrieb deren Rollen, aber auch, wie die Welt der Erwachsenen auf Pippi, Lukas und Co reagierte. Zudem erklärt die Professorin für deutsche Literatur und Didaktik, was die Literaturheldinnen ausmachen, welche Rolle elektronische Medien spielen und ob es eine Inflation an Heldinnen gibt.

Heldinnen und Helden der Literatur sind mutige Vorbilder für Kinder. Welches sind denn die bedeutendsten in der Kinderliteratur?

Dr. Karin Vach: Wenn wir an Heldinnen und Helden der Kinderliteratur denken, dann fallen uns vermutlich schnell die Klassiker ein, allen voran Pippi Langstrumpf, die kleine Hexe oder auch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Sie zeichnen sich durch große Eigenständigkeit aus. Pippi und die kleine Hexe leben allein, unabhängig von den Erwachsenen und stellen sogar die Normen der Erwachsenenwelt auf den Kopf. Als Pippi Langstrumpf 1949 erstmals in der deutschen Übersetzung erschien, hat die Figur für großen Wirbel gesorgt. Teilweise musste das Buch heimlich unter dem Ladentisch verkauft werden. Eine so unangepasste Figur passte nicht zu den erzieherischen Vorstellungen der Zeit und wurde als Gefahr für die Heranwachsenden betrachtet. In Frankreich gab es sogar bis in die 1990er Jahre hinein nur eine stark gekürzte und umgestaltete Übersetzung, in der alle Passagen mit vermeintlichen Respektlosigkeiten gegenüber der Obrigkeit gestrichen oder geglättet waren. Daran sieht man, dass die literarischen Figuren für Kinder attraktiv sein können, aber von den Erwachsenen durchaus kritisch beobachtet und zensiert werden.

Die genannten Klassiker werden in der Kinderliteraturforschung der Phase der Kindheitsautonomie zugeordnet. Die kinderliterarischen Texte dieses Typs sind in der Nachkriegszeit in den 1950er, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer erst 1960, erschienen und wollten den Kindern ein Leseangebot jenseits von Trümmern, Hunger und Not eröffnen. Die Kinder konnten eintauchen in andere, fantastische Welten und so ihre reale Lebenswelt zumindest eine Zeit lang vergessen. Sie konnten sich durch die Helden als eigenständig und unabhängig von den Erwachsenen imaginieren. Zugleich war es Anliegen der Autorinnen und Autoren, positive Entwürfe für das gesellschaftliche Miteinander zu vermitteln. So etwa leben Jim Knopf und Lukas in einer Art Modellstaat, in den sie wieder zurückkehren. Das Kind Jim und der Erwachsene Lukas agieren auf Augenhöhe, lassen sich unvoreingenommen auf Neues ein, begegnen Fremden mit Offenheit und Neugier und beweisen viel Mut und Geschick in gefährlichen Situationen.

Welche Wirkung strahlen sie aus?

Die Attraktivität dieser Heldinnen und Helden hat sich bis heute gehalten. Mittlerweile erreichen sie die Kinderzimmer in großen Medienverbünden mit vielfältigen Medienangeboten. Die kindliche Autonomie gegenüber den Erwachsenen, das Infragestellen der Normen der Erwachsenen und letztlich auch die Stärke gegenüber den Erwachsenen ist etwas, was Kinder bis heute fasziniert und wichtig für ihre psychische Entwicklung ist. Die Figuren vermitteln den Kindern, dass sie die Herausforderungen des Alltags meistern können.

Es kommen doch immer wieder neue Heldinnen oder Helden für Kinder in die mediale Welt?

Bei einer Jahresproduktion von rund 9000 kinder- und jugendliterarischen Büchern haben es einzelne Heldinnen und Helden heutzutage schwerer so herauszustechen wie ihre Vorgänger und Vorgängerinnen. Dennoch gibt es immer wieder literarische Figuren, die medienwirksam Kinder erreichen und sogar mit ihnen aufwachsen. Wenn wir auf die aktuellen Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis schauen, in dem die herausragenden Werke eines Jahres ausgezeichnet werden, dann haben wir hier einige Protagonistinnen und Protagonisten, die durchaus mutige Vorbilder sein können. Es sind kindliche Figuren, die zwar mit individuellen Problemen zu kämpfen haben, aber mutig ihren Weg gehen. Sie verfügen über Resilienz in schwierigen familiären Lebenssituationen. Sie machen dabei auch Fehler und sind nicht perfekt. Aber gerade dadurch sind sie nicht von den Lesenden abgehoben und ihnen eher nah. Vorbildlich zeigen sie, dass man an schwierigen Problemen nicht zerbrechen muss und gemeinsam mit anderen Lösungen findet.

Welche Beispiele fallen Ihnen dafür ein?

Allen voran ist hier Rosalie aus dem gleichnamigen Buch von Timothée de Fombelle und Isabell Arsenault zu nennen. Die Handlung des Buches spielt zur Zeit des Ersten Weltkriegs.  Rosalie ist erst fünf Jahre alt, sie lebt allein bei der Mutter, der Vater ist im Krieg. Da die Mutter arbeiten muss, darf Rosalie hinten in der Schulklasse sitzen und wird so von dem Lehrer und auch ihren Mitschülern betreut. Rosalie erobert sich dabei selbstständig die Welt der Schrift. Sie will lesen lernen, denn sie will die Briefe des Vaters lesen, die er von der Front schickt. Sie hat nämlich das Gefühl, dass das, was die Mutter ihr vorliest, nicht den wahren Informationen des Vaters entspricht. Rosalie will nicht geschont werden, sie möchte teilhaben an dem, was die Erwachsenen beschäftigt. Nur so können die Trauer und der Schmerz mit der Mutter geteilt und gemeinsam überwunden werden. Wie Rosalie ihren Weg geht, ist sehr beeindruckend. Darüber hinaus ist dieses Buch mit seinem behutsam angelegten Text und den ausdrucksstarken Tuschezeichnungen ein kleines ästhetisches Juwel, nicht nur für Kinder.

LINKTIPP: Deutscher Jugendliteraturpreis

Auch in dem Buch “Haifischzähne” von Anna Woltz sucht sich ein Mädchen aktiv einen Weg im Umgang mit den Problemen zu Hause. Hier steht die Krebserkrankung der Mutter im Mittelpunkt. Den Eltern fällt es schwer, über ihre Ängste mit ihrer Tochter Atlanta zu sprechen. Sie hangeln sich von einem Untersuchungstermin zum nächsten in der Hoffnung, dass die Behandlung angeschlagen hat. Atlanta empfindet das Familienleben wie in einer Warteschleife. Ihre Gefühle schwanken zwischen Bangen und dem Wunsch zu leben und sich zu freuen. Eines Tages hält sie das Schweigen und Warten zu Hause nicht mehr aus, setzt sich aufs Fahrrad und will in einer Nacht und einem Tag das Ijsselmeer umfahren. Dabei trifft sie auf Finley, der auch von zu Hause abgehauen und mit dem Fahrrad unterwegs ist. Zusammen fahren sie weiter und während sie fahren, gewinnen sie Kraft, wieder zu ihren Familien zurückzukehren und ihre Empfindungen anzusprechen.

Themen, die alles andere sind als leichte Kost. Gibt es dafür weitere Beispiele?

Obdachlosigkeit, die aktuell auch Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft betreffen kann, ist das Thema in dem Kinderbuch „Adresse unbekannt“ von Susin Nielsen. Durch die Arbeitslosigkeit geraten Felix und seine Mutter in eine Abwärtsspirale, aus der sie sich nicht mehr selbst befreien können. Nach außen versucht die Mutter die Fassade der gesellschaftlichen Mittelschicht aufrechtzuerhalten, die jedoch immer mehr bröckelt. Für Felix, den Ich-Erzähler, wird irgendwann klar, dass die Unterkunft im alten Campingbus im Herbst kein Ferienabenteuer mehr ist. Aus der Rückschau erzählt er, wie es dazu gekommen ist und am Ende das Lügengebäude einstürzen muss. Es ist ergreifend, wie Felix mit seinen Problemen umgeht und unterstützt von seinen Freunden eine unkonventionelle Lösung findet.

In Ayşe Bosses Kinderbuch “Pembo. Halb und halb macht doppelt glücklich” gibt es auch Probleme, die aber bei aller Ernsthaftigkeit mit viel Witz und Komik verarbeitet werden. Pembo muss ihr geliebtes Dorf am türkischen Mittelmeer verlassen, weil der Vater sich in Deutschland seinen Traum erfüllen möchte. Er hat von einem Onkel in Hamburg einen Frisörsalon geerbt. Als dieser Frisörsalon sich als Hundesalon entpuppt, bricht für den Vater eine Welt zusammen. Mit viel Geschick gelingt es Pembo mit ihrer Mutter und Freunden, dem Vater aus der Patsche zu helfen. Ganz nebenbei wird eine Migrationsgeschichte erzählt, die zeigt, dass der Verlust von Heimat auch umgewandelt werden kann zur Erkenntnis, dass es bereichernd ist, mit mehreren Kulturen aufzuwachsen.

In “Irgendwo ist immer Süden” stehen die Nachbarskinder Ines und Vilmer im Mittelpunkt, deren Eltern sich im Sommer keine Urlaubsreise leisten können. Ines täuscht ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in den sozialen Medien eine Urlaubsreise in den Süden vor. Immer mehr gerät sie dabei unter Druck, entsprechende Urlaubsfotos zu posten. Doch Vilmer rettet sie schließlich aus dem Schlamassel, indem er Ines einlädt, in den verlassenen Kellerräumen ihres Wohnblocks einen eigenen Süden zu bauen. Im Spiel erleben beide eine eigene glückliche Welt, die aber auf dem Spiel steht, als Ines Lüge auffliegt. Es geht nun für Ines darum, ihre Fehler einzugestehen und die Freundschaft zu Vilmer zu beweisen. 

Wie up to date sind die Helden und Heldinnen in der Kinderliteratur in Bezug auf Political Correctness, von den Geschlechterrollen bis hin zum Sprachgebrauch?

Bei der großen Anzahl der kinderliterarischen Werke, die jedes Jahr erscheinen, finden wir natürlich ein breites Spektrum vor: Bücher mit stereotypen Rollenangebote und nicht sprachsensibel und Bücher, die vielfältig sind, differenziert und spielerisch diverse Themen aufgreifen. Wenn Eltern ihren Kindern Geschichten bieten möchten, in denen den literarischen Figuren alle Möglichkeiten der Entfaltung eröffnet werden sollen, dann müssen sie nach wie vor das Buchangebot kritisch betrachten. Man kann schon sagen, dass sich an den Rändern des Mainstreams einiges getan hat, aber darauf muss man eben auch schauen.

Welche Eigenschaften braucht ein mutiges Vorbild für junge Menschen in der Literatur?

Für mich zeichnen sich mutige Vorbilder heutzutage durch gesellschaftliche Handlungsfähigkeit und sozialer Verantwortung aus. Die Figuren – auch der vorgestellten Bücher – gestalten aktiv ihr soziales Umfeld, nehmen Probleme wahr und versuchen Lösungen zu finden. Das sind andere Figuren als in der Kinderliteratur der Kindheitsautonomie. Das hat damit zu tun, dass Kinder heute mehr über die Gesellschaft und die Welt wissen. Die kinderliterarischen Figuren von heute sind auch selbstständig. Aber ihre Autonomie zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf der Suche sind, Fragen stellen und herausfinden wollen, was sie sich für ihr Leben und die Welt wünschen. Dabei kann es auch zu Fehlern kommen. Sie haben den Mut, Fehler einzugestehen und wieder auf andere zuzugehen.

Gibt es in der Kinderliteratur zu viele oder zu wenige Helden?

Der Begriff des Helden ist zwiespältig, nicht zuletzt, weil er in der Geschichte für politische Interessen missbraucht wurde. Mit der Aussicht auf den Heldentitel wurden und werden bis heute immer wieder Heranwachsende verführt. Wenn man die literarischen Helden betrachtet, dann sind es Figuren, die sich mutig den Herausforderungen stellen, zum Teil von zu Hause wegziehen, Schwierigkeiten überwinden und verändert wieder zurückkommen. Helden sind integer, setzen sich für andere ein, ohne auf das eigene Fortkommen zu achten und wirken insofern als mutige Vorbilder. Wenn man den Begriff des Helden weiter als mutiges Vorbild fasst, wie oben beschrieben, dann kann man sagen, dass wir in den für den Deutschen Jugendliteraturpreis gesichteten Neuerscheinungen der letzten Jahre viele Heldinnen und Helden vorfinden. Es sind vorwiegend Heldinnen und Helden des Alltags, welche die Probleme im sozialen Umfeld, mit der eigenen emotionalen Entwicklung und der eigenen Identität bearbeiten. Wir finden auch politisch aktive Helden vor, die sich aktiv für Gerechtigkeit oder für das Leben im Einklang mit der Natur einsetzen. 

Gibt es Beispiele für zu Helden stilisierte Figuren, um die Kinder besser einen Bogen machen würden?

Ich wünsche Kindern Geschichten, die von Figuren erzählen, die alle Fragen stellen dürfen und denen alle Möglichkeiten zustehen, so dass sie sich mit Rücksicht auf andere frei entfalten können und die ihre Wünschen und Träumen im Einklang mit ihren Mitmenschen und der Natur leben können. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass auch sehr kommerziell vermarktete Figuren, die diese Kriterien nicht erfüllen, von Kindern konstruktiv genutzt werden können. Kinder können als aktive Rezipientinnen und Rezipienten – das ist durch Medienaneignungsstudien belegt – auch mit stereotypen Angeboten so spielerisch umgehen, dass diese Figuren umgewandelt und in die eigenen Welten eingebaut werden können.

Was glauben sie, welche Helden haben die Nase vorn bei Kindern: Die auf Papier im Heft oder Buch oder die in elektronischer Form als Online-Spiel oder Film.  

Ich glaube, dass Online-Spiele deshalb eine große Attraktivität für Kinder besitzen, weil Kinder sich im Rahmen der digitalen Vorgaben als autonom erleben. Sie können selbst Helden und Heldinnen sein, indem sie Abenteuer erleben, Herausforderungen meistern, sich mit anderen messen können und belohnt werden für Ihre Anstrengung. All das bietet das Buch nur in der Imagination und nicht im direkten Erleben. Die Nase vorn haben aber gemeinsame Vorlesegespräche von Erwachsenen und Kindern, wenn es um die emotionale Nähe geht. Sich gemeinsam Bilderbücher anzuschauen oder regelmäßig Kapitel aus Kinderbüchern vorzulesen ist für Kinder und Eltern gleichermaßen eine wertvolle Erfahrung, die auch das Band zwischen Eltern und Kind festigt. So kann ein Tag auch nach Stress und Streit beim gemeinsamen Vorlesen friedlich beschlossen werden. Darüber hinaus haben das gemeinsame Vorlesen und miteinander sprechen eine enorm hohe Bedeutung für die Sprach- und Literalitätsentwicklung der Kinder haben, zeigen umfassende Studien der Sprachentwicklungs- und Lesesozialisationsforschung.

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Dr. Karin Vach

Dr. Karin Vach war lange Grundschullehrerin und Mitglied der Schulleitung in einer Grundschule in Köln. Seit zehn Jahren ist sie Professorin für deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Ihre Arbeits- und Forschungsprojekte sind Kinder- und Jugendliteratur, Bilderbücher, literarisches Lernen und Leseförderung. Derzeit ist sie Vorsitzende der Kritikerjury für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Wenn sie nicht gerade liest, fährt sie gern Fahrrad, läuft oder geht spazieren. Sie ist verheiratet und hat mit ihren vier Kindern im Alter von 12, 15, 17 und 19 Jahren schon weit vor dem ersten Lebensjahr Bilderbücher angesehen und später ihren Kindern viel vorgelesen. Privat hört sie gern Hörbücher.