Corona hat Schülerinnen und Schülern zugesetzt – auch was das Lesen betrifft. Das Institut für Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dortmund kommt zu dem nach eigener Bewertung „ernüchternden Ergebnis: Den Schü­ler­in­nen und Schülern fehlt rund ein halbes Lernjahr im Vergleich zu 2016.“

Im Fazit ihrer Studie reden die Autorinnen und Autoren Klartext: „Die Ergebnisse lassen sich als alarmierend bezeichnen“, folgern Dr. Christoph König und Professor Dr. An­dre­as Frey von der Frankfurter Goethe-Uni­ver­si­tät mit fünf weiteren Wissenschaftlern. Lesen sei eine zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Bildungsbiografie und die gesellschaftliche Teilhabe, schreibt das Team im Schlusswort einer am Dienstag vorgestellten Studie. „Für die aktuelle Schülergeneration in Deutschland zeigt sich jedoch eine substanziell niedrigere Lesekompetenz als noch vor fünf Jahren.“ Um die Lücken zu schließen und die gleichen Kompetenzen zu erreichen wie Kinder vor der Pandemie müssten die Kinder „im Mittel ein halbes Jahr länger zur Schule gehen“.

Knapp 2100 Viertklässler an 111 Schulen lieferten die Grundlagen für die IFS-Schulpanelstudie.

In der Auswertung der Zahlen bestätigten die Wissenschaftler die Befürchtung vieler Erzieher, Pädagoginnen und Eltern, die sich gegen die Schulschließungen seit Beginn der Pandemie vor mehr als zwei Jahren ausgesprochen hatten und auch auf Distanzunterricht nicht gut zu sprechen waren. „Der Anteil an Grund­schü­lerin­nen und -schülern, die gut bis sehr gut lesen kön­nen, ist im Vergleich zum Jahr 2016 um rund sieben Pro­zent auf 37 Pro­zent gesunken. Der Anteil derjenigen, die Pro­ble­me mit dem Lesen und dem Textverständnis haben, nahm dagegen um sechs Pro­zent auf ins­ge­samt 28 Pro­zent zu“, heißt es in dem Abschlussbericht.

Wenig geändert hat sich indes beim Zusammenhang zwischen Lesestärke und Geschlecht: „Mäd­chen sind wei­ter­hin im Mittel stärker im Lesen als Jun­gen“, lesen die Autorinnen aus den Zahlen. Von Nachlassen der Lesekompetenz seien Jungen wie Mädchen jedoch gleichermaßen stark betroffen. Dies gilt auch für die unterschiedliche Lesekompetenz von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Die Studie spricht von einer „bedeutenden Differenz in der mittleren Lesekompetenz“ und einer tendenziellen Zunahme der Unterschiede.

Für die Wissenschaftler ist klar, dass dringend etwas getan werden muss: „Die Ergebnisse zeigen, dass eine umfassende sowie zielgruppenspezifische Unterstützung der Lesekompetenz durch Fördermaßnahmen sowohl in der Grundschule als auch in den weiterführenden Schulen dringend notwendig ist“, heißt es im Fazit der Studie. Noch deutlicher wird Studienleiterin Nele McElvany in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“: „Die Lernrückstände beim Lesen von einem halben Schuljahr sind so massiv, dass man sie nicht mit Einzelmaßnahmen wie Nachhilfe-Unterricht auffangen könnte. Wir steuern auf ein großes Problem zu, dass sich durch die gesamte Schulzeit und bis hin zu nicht erfolgreichen Schulabschlüssen ziehen kann.“

Eine Botschaft, die offenbar ankam. „Die Studie macht deutlich, dass es erneute flächendeckende Schulschließungen nicht wieder geben darf“, sagt Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) in einem Bericht der Frankfurter Rundschau.

Sie verweist auf das Corona-Aufholprogramm, mit dem der Bund die Länder beim Abbau von Lernrückständen unterstütze. Darüber hinaus plane die Ampel-Regierung laut Koalitionsvertrag, 4000 Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern aus wirtschaftlichen schwierigen Verhältnissen besonders zu fördern.

Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), nennt es in einer Stellungnahme wenig verwunderlich, „dass die … Studie zu dem Schluss kommt, dass sich die Benachteiligung von Kindern, die auch während der Pandemie keine oder nur wenig Unterstützung zu Hause erhalten haben, verstärkt.“ Er befürchtet, dass die festgestellte Defizite trotz allen Engagements des pädagogischen Personals nicht behoben werden könnten, „so lange Kitas und Schulen durch die politisch Verantwortlichen nicht so ausgestattet werden, dass sie die ihnen zugewiesenen Aufgaben auch erfüllen können. Es gehört zudem zur Wahrheit, dass die Entwicklung der Lesekompetenz nicht mit der vierten Klasse abgeschlossen ist. Sie ist fächerübergreifende Aufgabe weit über die Grundschule hinaus.“

Für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sind die Grundschulen „seit langer Zeit unterfinanziert“, sagte GEW-Vorstandsmitglied Anja Besinger-Stolze in dem Bericht der Frankfurter Rundschau. „Die im Verlauf der Corona-Pandemie sinkende Lesekompetenz ist erschreckend, kommt aber nicht unerwartet.“                                                                                       kakü